von Amir Rezazadeh und Sven Telljohann
Wir mussten nicht lange auf Dramatik warten — das Match fing schon mit einer kleinen Soap an. Nur Markus und ich (Amir) standen pünktlich am Brett, die restliche Truppe tauchte nach und nach auf und unsere Gegner mokierten sich lautstark: „So kann man doch nicht anfangen!“ Ein bisschen Theatralik gehört wohl zur Hessenliga, dachte ich mir, und winkte ab. Stück für Stück trudelte die Auto-Fraktion ein, und als die Mindestbesetzung stand, konnten wir endlich loslegen — mit einem offenen Fragezeichen über dem letzten Brett: Kommt Ingo rechtzeitig?
Ingo kam. Mit über 30 Minuten Verspätung, nur einem Handschuh und dem Fahrrad. Bildlich gesprochen: er raste zum Mannschaftskampf, stellte sein Rad ab, zog den einen Handschuh aus (oder eben nicht ganz) und setzte sich hin, als wäre die Verspätung Teil der Taktik (nach eigener Aussage hatte er sich total verfahren). Er „blitzte“ die Eröffnung runter, die Damen wurden früh getauscht, und plötzlich war aus dem Drama ein handwerklich schönes Schachbild geworden.
Aber chronologisch:
Gerardo war als erster fertig. Er kam mit dem Motorrad hereingeflitzt und lieferte quasi im gleichen Atemzug ab — eine kurze, präzise Partie (Grünfeld-Muster), die früh in ein Remis mündete. Schwarz-Remis gegen einen gleich guten Gegner, sehr effizient, 0,5:0,5.
Dann passierte länger nichts. Als nächster war Markus am Nachbarbrett fertig, ebenfalls remis mit Weiß. Schwarz hatte sich solide gegen 1. C4 aufgebaut und Markus gelang es nicht, da entscheidenden Vorteil zu erlangen. Neuer Spielstand 1:1.
Danach hat Sven seine Partie an 2 mit Schwarz verloren. Es war wieder mal eine „kreative“ Eröffnung mit Schwarz, die nach einer gegnerischen Ungenauigkeit zu -1,5 führte. Allerdings setzte er nicht korrekt fort, wohl ein Rechenfehler – oder er hat sich einfach nur auf ein Stellungsgefühl verlassen, das mittlerweile angesichts von schachlicher Inaktivität allzu häufig trügerisch ist. Weiß setzte fort (+ 1,5), um dann aber ein paar Züge später einen weiteren Fehler zu begehen. Hier hätte Sven letztmals ein remis erreichen können (zugegebenerweise schon eine längere Kombination, die Stockfish aber sofort anzeigt). Nachdem diese Chance ausgelassen wurde, war nach ein paar Zügen im Trüben Fischen Ende (ZÜ in deutlicher Verluststellung). Neuer Spielstand 1:2.
Das blieb aber auch die einzige „Gurke“ an diesem Tag und glücklicherweise sah es an allen anderen Brettern positiv aus.
Murat zeigte seine gewohnt saubere Positionsarbeit: Sizilianer mit Weiß und mit schnellem Übergang in ein angenehmes Doppel-Turmendspiel. Er gewann dann einen Bauern. In der Analyse sah es so aus, als wenn sein Gegner es trotz Minusbauer möglicherweise hätte halten können. Hat er aber nicht und Murat hat dann sicher verwertet, 2:2.
Marc war der Aufräumer des Tages. An Brett 7 hat er seinen Gegner förmlich auseinandergenommen — Eindringen, Druck aufbauen, keine Gnade für den gegnerischen König. Das war der typische „ein Punkt, klare Kiste“-Moment, bei dem man wusste: Das ist unser Mann für kritische Situationen. Ganz klare Meinung meinerseits: Marc muss öfter auf den entscheidenden Brettern sitzen. Neuer Spielstand 3:2.
Michael bekam früh Druck, der Gegner versuchte ihn am Königsflügel zu überrollen. Ob es zwingend war, habe ich nicht mitbekommen, jedenfalls tauschte Weiß zwei Leichtfiguren für Turm und Bauer ab. Michaels musste mit einer offenen Linie am Königsflügel zurechtkommen, aber die Leichtfiguren hielten die Stellung gut zusammen. Schließlich gelang es ihm selber sich mit Turm und Dame dem gegnerischen König anzunähern. Weiß verlor dann bei offenem König nach zwei Schachs die Dame und gab auf, 4:2. Aber es war jetzt schon klar, dass wir gewinnen würden, da mindestens Ingos Partie zu dem Zeitpunkt „unverlierbar“ für ihn war.
Obwohl als letzter gekommen, spielte Ingo die zweitlängste Partie. Er gewann im Läuferendspiel einen Bauern und hat dann mit L + 2 Bauern (b + g) gegen L+ 1 Bauer (f) souverän gewonnen, 5:2.
Meine (Amirs) eigene Partie am ersten Brett war ein kleines Abenteuer: am selben Tag noch aus Japan gelandet, mit Jetlag im Gepäck, war das Denken nicht immer auf 100 %. Es wurde kompliziert, ich wickelte in ein Endspiel mit Läuferpaar gegen Springer und Läufer ab, opferte einen Bauern, bekam dafür einen Freibauern auf der B-Linie — aber unter Zeitdruck ließ sich kein sauberer Gewinnplan mehr fahren. Dreifache Stellungswiederholung, Remis. Keine Schande bei der Umstände, eher eine Erinnerung daran, dass Reisen und Top-Leistung schlecht zusammenpassen, wenn man keine Erholungsstrategie hat.
Am Ende stand ein wichtiger Auswärtssieg: 5,5 : 2,5. Damit konnten wir die Abstiegswahrscheinlichkeit im Ligaorakel um ganze 20 Punkte nach unten drücken (aktuell nur noch 34,7%)!
Nicht nur das Ergebnis zählt, sondern wie wir es zustande brachten — mit Improvisation (Ingo), Durchschlagskraft (Marc), Ruhe (Murat) und effizientem Spiel (Gerardo). Es war ein großer, unterhaltsamer Mannschaftstag — mit Fahrrad-Heldentum, Motorrad-Effizienz, Jetlag-Dramen und einem Team, das am Ende bewiesen hat, dass es auch unter kuriosen Umständen liefern kann. Auf das nächste Auswärtsspiel — nur bitte pünktlicher, und vielleicht mit zwei Handschuhen pro Rad und Spieler.